The book of Jeremy

Der Anruf kam ganz früh am Mor­gen — und er kam nicht uner­war­tet. Seit dem Vor­tag wuss­te ich, dass M. ein „Dub­lin III-Opfer“ gewor­den war: er soll­te nach Ita­li­en „rück­ge­führt“ wer­den, jenem Land, dass ihn nach sei­ner hals­bre­che­ri­schen Flucht aus Äthio­pi­en als ers­tes auf­ge­nom­men hatte. 

Es waren schlim­me 2 Jah­re dort gewe­sen: M. ist schwer an einer Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung erkrankt. In Ita­li­en hat ihn nie­mand ver­sorgt. Er muss­te auf der Stra­ße leben, mit allen schreck­li­chen Kon­se­quen­zen, die das hat. Um die Maschi­nen­ge­wehr­sal­ven, Schreie und gebrüll­ten Befeh­le in sei­nem Kopf „weg­zu­be­kom­men“, hat­te er Ben­zin geschnüffelt. 

Nun also die­ser Not­ruf: „ Du musst sofort kom­men, bit­te!! Ich glau­be er ist ver­rückt gewor­den! Bit­te, komm!“ Ich warf mich ins Auto und fuhr in die Gemein­schafts­un­ter­kunft. Der Zim­mer­ge­nos­se, der mich alar­miert hat­te, emp­fing mich schon im Trep­pen­haus. Im Gang vor sei­nem Zim­mer lief mir M. ent­ge­gen. Sei­ne Augen waren schreck­ge­wei­tet. „ Do You know the book of Jere­my?“, rief er. „Aber ja!“, sag­te ich. „ Sie kön­nen mich nicht holen, oder?“, stöhn­te er,  „Im Buch Jere­mi­as steht doch: wer an Gott glaubt, ist nicht ver­lo­ren! Gott schützt die, die IHM ver­trau­en! Sie holen mich!!! Aber es steht doch dort…! Ich glau­be doch an IHN!“ Dann lief er zurück in sein Zim­mer, um weni­ge Sekun­den spä­ter wie­der her­aus­zu­kom­men. „ Sie kön­nen mich nicht holen!! ER wird mich schüt­zen! Weißt Du, die Welt ist vol­ler Hexen und Teu­fel! Sie holen mich!“ 

Mit vie­len guten Wor­ten gelang es mir ihn etwas zu beru­hi­gen und ihn zu bewe­gen mit mir zu sei­nem behan­deln­den Psych­ia­ter in unse­rem Ort zu fah­ren. Als wir die Pra­xis betra­ten, schrie er: „I´m the son of God, they can‘t touch me!“ Er begann am gan­zen Leib zu zit­tern. Wir wur­den sofort in das Sprech­zim­mer geführt. Wäh­rend sein Arzt eilig eine Not­fall­ein­wei­sung in die Psych­ia­trie schrieb und eine Mit­ar­bei­te­rin ein Beru­hi­gungs­mit­tel hol­te, hielt ich M.s Hand fest und ver­such­te ihm die furcht­ba­re Angst zu neh­men. „Schaf­fen Sie dass, ihn in Ihrem Auto ins Kran­ken­haus zu fah­ren? Wenn er mit Blau­licht und Ret­tungs­dienst­lern geholt wird, macht ihn das erst recht wahn­sin­nig!“ „Wir schaf­fen das!!“ Wäh­rend ich das sag­te, schick­te ich ein Stoß­ge­bet in den Him­mel. Dann sind wir losgefahren. 

Auf der Auto­fahrt bra­chen dann die gan­zen schreck­li­chen Geschich­ten aus ihm her­aus, die sei­ne See­le so tief ver­letzt hat­ten: die Zeit als Kin­der­sol­dat, die Krie­ge gegen das Nach­bar­land, sei­ne Deser­ti­on aus der Armee, sei­ne Flucht über das Mit­tel­meer in einem Boot, das ken­ter­te. Das frem­de Kind, das er im Arm hielt, weil es ihm sei­ne ster­ben­de Mut­ter über­ge­ben hat­te. Das ertrank, wäh­rend er geret­tet wur­de in letz­ter Sekun­de. Hier brach er ab, von Wein­krämp­fen geschüttelt.

Fünf Wochen war M. in der Psych­ia­trie. Alle paar Tage rief er mich an. An sei­ner Stim­me konn­te ich hören, wie er sich lang­sam zurück ins Leben kämpf­te. Ein Gericht hat den Rück­füh­rungs­be­scheid kas­siert, M. hat einen Antrag auf Asyl gestellt in Deutsch­land, mit guten Chan­cen auf Aner­ken­nung . M. hat Deutsch gelernt und Anschluss an eine Kirch­ge­mein­de gefun­den. Es geht ihm gut, auch wenn er Medi­ka­men­te braucht, die die Bil­der, die ihn immer noch nachts über­fal­len, unter Kon­trol­le  hal­ten. Gott sei Dank!

Text: Gesi­ne von Pos­tel, Bild: Flickr, CC-Lizenz


Die­ser Bei­trag ist Teil unse­rer Kolum­ne „Du bist mir nah”. Wenn auch Sie eine Erfah­rung mit Flücht­lin­gen tei­len möch­ten oder selbst geflo­hen sind und hier davon berich­ten möch­ten, schrei­ben Sie uns. Wir freu­en uns über Ihren Beitrag! 

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